31. August 2021
Seija SeidemannLiebe zur Farbe und Musik
Die Kunst des Street Art Künstlers Rise kann man an vielen Orten Berlins entdecken. Doch sie ist flüchtig. Kaum entstanden, wird sie wieder übermalt und ist nur selten von längerer Dauer.

Es nieselt, als Rise mit dem Fahrrad aus der S-Bahn steigt. Er ist auf dem Weg zu einem “Lost Place”, dem ehemaligen Fliegerhorst Schönwalde im Norden Berlins. Jedes seiner Kleidungsstücke ist schwarz, selbst der Rucksack. Einzig ein Kunststoffhefter, der aus seiner Satteltasche ragt, leuchtet weithin sichtbar blau. Nachdem Rise den Ort passiert hat, geht es einige hundert Meter durch den Wald, dann einen breiten Feldweg entlang, bevor ein kaum sichtbarer Pfad auf eine Wiese abzweigt. Noch verdecken Bäume die Sicht auf die vielen Gebäude des Geländes. Jetzt im Spätsommer ist der schmale Weg fast komplett mit kniehohen Gräsern zugewachsen. Die Pflanzen erschweren das Fahren, streifen nass über Hosenbeine und Schuhe, einige bleiben in den Speichen hängen. Plötzlich erscheinen zwei riesige Hangars im Blickfeld. Das Holz der gewölbten Dächer ist schon lange vermodert und nur noch das skelettartige Gerüst überwölbt die zugewachsene Fläche. Der junge Mann folgt dem Weg und fährt an den Flugzeughallen vorbei auf ein flaches schuppenähnliches Gebäude zu. Hier schließt er sein Rad an, zieht einen Stoffbeutel samt dem blauen Hefter aus der Fahrradtasche und hängt ihn sich über die Schulter. Rise ist Street Art Künstler und der Ordner enthält Stencils – Schablonen. Sie geben später die Formen vor und begrenzen die Farbe. Schicht für Schicht entsteht auf diese Weise ein Bild, das vom Stil an Graphic Novel Illustrationen erinnert. Rise kennt das Gelände bereits recht gut. Er war schon oft hier und hat Statements und Bilder hinterlassen. Nichts für die Ewigkeit, aber in diesen Gebäuden dauerhafter als an vielen anderen Orten Berlins. Vor allem aber liebt er die Ruhe, die an verlassenen Orten wie diesem hier herrscht. Hier stört ihn niemand beim Malen. “Handy an. Welt aus”, steht über dem Bild eines Jungen, der im Schneidersitz auf das Smartphone in seinen Händen starrt. Einige seiner Motive sind schon so alt, dass die Farben von der Sonne ganz ausgeblichen sind. Vor allem das rote von einem Kreis umrahmte R – seine Signatur – lässt sich an manchen Stellen nur noch erahnen.
Flugplatz mit Geschichte
Das Gelände des Flugplatzes ist riesig. 1935 wurde der Fliegerhorst offiziell eröffnet, diente als Stützpunkt der Luftwaffe und war Ausbildungsstätte für Flugschüler, bis es 1945 von den Sowjets eingenommen wurde. Die russischen Besatzungsmacht brachte zeitweise bis zu 8.000 Soldaten auf dem Gelände unter. Seit die Gebäude 1992 geräumt worden waren, ist dieser Ort jedoch verlassen. Rise läuft an einem Pool vorbei. “JEDER TUT WASSER KANN” steht innen am Beckenrand. An Wasser erinnert die dunkelgrüne Brühe nicht mehr. Schleimige Substanzen schwimmen an der Oberfläche. Das ehemalige Freibad liegt zentral zwischen langen Reihen von Gebäuden: Kasernen aus dunkelrotem Backstein stehen auf der einen Seite, auf der anderen Plattenbauten in Betongrau. Überall wuchern hohe Gräser, Büsche und Brennnesseln, auf einigen Dächern ragen Birken in die Luft. Als Rise eines der vielen Backsteingebäude betritt, ist seine Hose nass bis zu den Knien. Im Treppenhaus hat jemand eine rote 88 an der Wand hinterlassen. Rise nimmt eine Farbdose aus dem Rucksack und streicht das rechte Symbol durch. Die Zahl 88 steht als Kürzel für den nationalsozialistischen Gruß. Rise übermalt jedes dieser Zeichen, das ihm begegnet. Auch einige Hakenkreuze verschwinden so unter einer neuen Farbschicht. Er läuft von Raum zu Raum, steigt Treppen hinauf und wieder herab bei der Suche nach dem perfekten Platz für sein Vorhaben. Ideal wäre eine Fläche, die auch von draußen sichtbar ist, sodass Vorbeilaufende das Bild sehen können. Fast überall wölben sich jedoch entweder unzählige alte Farbschollen an Wänden oder sie sind bereits bemalt. Ab und zu erkennt er zwischen laienhaften Graffitis und ungelenken Übungen die Malereien von befreundeten Street Art Künstlern. Schließlich findet er eine unbemalte und recht glatte Wand in einem Raum im Erdgeschoss des Gebäudes. Vor der breiten Fensterfront gegenüber verläuft ein asphaltierter Weg. Das passt. Er legt ab und holt eine längliche Bürste aus dem Rucksack. Sorgfältig befreit er die Wand von losen Mörtel- und Farbresten. Kleine Steinchen rieseln herab und fallen in eine dicke Schicht aus weißem Staub, die den Boden bedeckt. Dann nimmt er den blauen Hefter aus dem Beutel und reiht fünf Spraydosen auf: Weiß, Hellgrau, Dunkelgrau, Schwarz und Rot. An der Wand lehnt eine verbogene Metallstange. An diese heftet er einige Stücke Panzertape. Die Klebestreifen braucht er später zum Befestigen der Schablonen.
Entdeckung der Schablonenkunst
Als Teenager, so mit 14 Jahren ungefähr, kam Rise zum ersten Mal mit Graffiti in Kontakt. Der ältere Bruder eines Klassenkameraden war Sprayer und inspirierte ihn. Er ahmte diese Schrift nach, probierte herum und war schließlich so gut, dass er bei jeder Wandzeitung, die in der Schule angefertigt werden sollte, um Hilfe gebeten wurde. Das liegt jetzt 12 Jahre zurück. 2015 entdeckte er dann die Schablonenkunst für sich und begann seine Bilder zu signieren: “Rise” im Sinn von ‘sich erheben’, ‘aufstehen’ oder ‘sichtbar machen’, weil er auch immer wieder politische Themen in seiner Kunst verarbeitet.
Das Motiv, das er für heute geplant hat, ist nicht politisch. Es wird einen jungen Mann zeigen, der Geige spielt. Als Vorlage diente ihm das Foto eines Freundes, welches er erst am Computer bearbeitete, bevor er die Umrisse auf Karton übertrug und mit einem Cutter ausschnitt. Für den Oberkörper des Geigers hat Rise insgesamt vier Schablonen angefertigt. Eine für jede Farbe. Weil Hose und Schuhe einfarbig Schwarz werden sollen, genügt dafür ein einzelnes Stencil. Rise holt das erste Kartonstück aus der Mappe, zieht ein Stück Klebeband von der Metallstange und befestigt die Schablone auf der Wand. Es klappert laut, als er die schwarze Farbdose kräftig schüttelt. Bevor er mit dem Aufbringen des Lacks beginnt, sprüht er einige Male in die Luft. Ein Geruch nach Lösungsmittel und Marzipan erfüllt den Raum. Dann entsteht auf der der Wand die erste schwarze Fläche. Gleichmäßig führt er die Dose im Zickzack über den ausgeschnittenen Bereich des Kartons. Immer wieder bis alles mit einer homogenen Farbschicht überzogen ist. Als er die Vorlage abnimmt, kann man zwei Beine erkennen. Doch wie bei einem Puzzle, bei dem die Teile noch nicht zusammengefügt wurden, zerteilen helle Streifen den dunklen Farbauftrag. Sie stammen von den Stegen, die in den ausgeschnittenen Bereichen der Stabilität wegen belassen wurden. Rise füllt diese Stellen freihändig aus.
Stück für Stück nimmt der Geiger Gestalt an, bekommt ein Gesicht, lacht. Die Zeit, die Rise jeder Farbschicht geben muss, damit sie trocknet, nutzt er, um den Hintergrund zu gestalten. Rote Muster aus Punkten rahmen den Musiker bald ein. Für die letzten und feinsten Details kommt ein Edding zum Einsatz. Dann ist das Bild fertig. Stolz lächelnd blickt einen der junge Mann mit der Geige am Kinn an. Er posiert für diese Aufnahme, hat den Bogen locker auf die Saiten gelegt, die obersten Knöpfe des Hemds sind leger geöffnet. Dann greift Rise ein letztes Mal zur Dose. Rot. Er zieht einen Kreis und malt ein R hinein. Die Signatur, die Eingeweihten mitteilt: “Das Bild ist von Rise.” Er schießt ein paar Fotos, die er am nächsten Tag auf Instagram veröffentlichen wird. Als Rise mit dem Rad in die S-Bahn steigt, ist es noch immer bedeckt und der Himmel grau.